Das Schlösschen im Altmühltal
In der Nähe von Eichstätt, in Inching, einem Dörfchen an der trägen Altmühl, lag das Paradies.
Oft fuhr ich zusammen mit meinen älteren Geschwistern › auf dem uralten, schweren Damenfahrrad, das schon einen Bombenangriff mitgemacht hatte, ein paar Kilometer Altmühl abwärts nach Inching.
Dort bewohnte eine befreundete Familie ein kleines Barockschlösschen ›› am Wasser, auch das hatte bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts – wie »unser« Haus – einem Domherrn gehört.
Im Sommer fühlte ich mich in diesem Garten wie im Paradies: Frau Böhm, eine braungebrannte, drahtige, immer freundliche Dame, empfing uns jedesmal mit großem Hallo an der Gartentüre. Ihr Sohn war ein Schulkamerad meiner ältesten, damals 23jährigen Schwester gewesen, daher hatten sich die Familien kennen gelernt.
Glückliche Erinnerungen
Zur Familie Böhm gehörten wohl noch andere Kinder und wir kamen zu fünft oder zu sechst. Wir deckten gemeinsam den großen Kaffeetisch im Garten, nach und nach wurden mehrere Platten mit selbstgemachtem, köstlichem Kuchen gebracht, dazu eine riesige Kaffeekanne und für uns Kinder Limonade, was damals ein besonderer Luxus war.
Zwischen unseren Füßen krabbelte die alte griechische Landschildkröte herum, sie wartete auf Beeren und andere Leckerbissen, die vom Tisch fielen. Ich nahm sie gerne hoch und bestaunte ihr seltsames, runzliges Gesicht mit den winzigen Augen.
Nach dem Kaffeeklatsch ging es in die Altmühl. In einem alten, modrig riechenden Gartenhäuschen zogen wir uns um. Zwischen dem Schilf konnten wir dann langsam über eine rutschige Treppe in das dunkle, aber damals noch relativ saubere Wasser gleiten und losschwimmen. Gerne sprangen wir auch gleich vom Steg aus hinein.
Wenn wir Glück hatten, durften wir mit Herrn Böhm im Stocherkahn mitfahren. Mit einem langen Stab stieß er das Boot vom Boden ab und es glitt mit Schwung durchs Wasser, bis es wieder einen Stoß brauchte. Oft musste er es mit dem Stab vorsichtig an Schilf und Schlingpflanzen vorbei steuern.
Das war ein ganz anderes Dahingleiten als das rumpelige und oft quietschende Rudern beim Eichstätter Bootsverleih.
So gingen viele der glücklichen Sonntagnachmittage dahin zwischen Essen, Federballspielen, Schwimmen, Reden und Kanonsingen, bis wir uns wieder auf die Räder schwangen und auf der hügeligen, schlecht geflickten Straße nach Hause strampelten.
An einem heißen Sommertag
Wieder kam einer dieser schönen, heißen Sommersonntage. Es muss im Jahr 1956 gewesen sein, denn meine Mutter erwartete damals ihr viertes Kind, was mir – wie damals üblich – erst mitgeteilt wurde, als es schon geboren war: Diesmal war es Magdalene. Ich war knapp acht Jahre alt und freute mich, dass ich wieder mit den »Großen«, meinen Geschwistern aus der ersten Ehe meines Vaters, mitfahren konnte. Dass ein Schwung Kinder für einen Nachmittag aus dem Haus sein würde, kam der geplagten Pfarrfrau sicher nicht ungelegen.
Jedenfalls machten wir uns auf, packten die Badesachen auf die Gepäckträger, fuhren die Ostenstraße über das holprige Kopfsteinpflaster hinaus, am Krankenhaus vorbei, weiter draußen an den Kasernen der Bereitschaftspolizei, bis endlich die hügelige, geteerte Landstraße Richtung Kipfenberg kam.
Nach mühsamem Hochtreten ohne Gangschaltung freute ich mich auf die erste Abfahrt. Mein sechs Jahre älterer Bruder Erhard hinter mir rief: »Schau, ich kann freihändig fahren!«
Ich drehte mich kurz um, mein Rad fing an zu eiern, wackelte immer mehr, ich konnte es nicht mehr halten und –
i c h w a r w e g !
Der Unfall
Was passiert war, wurde mir später erzählt: Ich stürzte, wurde bewusstlos, blutete wohl ziemlich stark und wurde zur Seite getragen.
Ein Autofahrer kam vorbei, verband mir den Kopf von oben bis unten, nur die Augen und die Nasenlöcher schauten noch raus. Meine Geschwister und Tante Erika, die bei uns wohnte, legten mich ins Gras, ich wachte wieder auf und schaute mich erstaunt um, ich hatte keine Ahnung, wo ich war und was passiert war. Erst in den nächsten Wochen kam die Erinnerung bis zu dem Zeitpunkt, wo ich bewusstlos geworden war, zurück.
Sie hoben mich auf die improvisierte Krankenbahre, die sie irgendwie mit Hilfe von Stöcken und Handtüchern über zwei Gepäckträger gebaut hatten und schoben mich zu Doktor Vollhardt, unserem Hausarzt, der zum Glück im Osten der Stadt seine Praxis hatte. Er hat, so wurde mir erzählt, uns jüngere Geschwister alle zur Welt gebracht.
Er wickelte den Verband ab und gab mir eine Betäubungsspritze ins Kinn, wo eine große Platzwunde klaffte. Dann erklärte er mir, dass er das Kinn nähen und in die Wunde eine Tablette reinstecken müsse, damit sie sich nicht entzündete. Für die Stirn genügte ein großes Pflaster.
Er fuhr mich mit seinem Auto nach Hause, dort wurde ich im Esszimmer auf die Chaiselongue gebettet, so nannte man diese Couch damals. An größere Schmerzen kann ich mich zum Glück nicht erinnern, aber meinen Mund konnte ich kaum öffnen.
Die Schnabeltasse
Doktor Vollhardt beruhigte meine Mutter: »Alles nicht so schlimm! Sie muss eine Woche ruhig liegen, wegen der Gehirnerschütterung, essen geht vorläufig nur mit der Schnabeltasse.«
So bekam ich allerhand Süppchen und dünnen Brei, den ich gar nicht mochte, musste still liegen, bekam Mitleid und auch Spott von meinen Geschwistern ab, las mehrere Märchenbücher aus und hörte ständig die Uhr über mir ticken und jede Viertelstunde schlagen.
Nach einer Woche durfte ich wieder aufstehen. Endlich konnte ich in den Garten und schaukeln, meine Freundinnen besuchten mich, mein Mund ging wieder auf, die Schnabeltasse wurde weggeräumt. Irgendwann sollte der Doktor kommen und mir die Fäden ziehen.
Auf einmal war er da und zupfte sie gleich im Garten raus, während ich auf der Schaukel saß.
Als er fertig war, rannte ich sofort hoch und schaute in den Spiegel.
»Ein Schönheitsfehler wird bleiben« hatte er gesagt. Ja, das sah noch ziemlich scheußlich aus, die rötliche, frische Naht war sofort zu erkennen. Doch im Lauf des Sommers konnte ich den Schrecken bald vergessen. Es tat mir nur leid, dass ich an jenem Sonntag nicht ins Inchinger »Paradies« gekommen war.
Die vielen Besuche im Eichstätter Freibad trösteten mich darüber hinweg. Dort war eine andere Art von Paradies für uns, aber das wäre eine neue Geschichte.
Nachtrag: Paradiese gibt´s nicht für alle
Das Paradies beschäftigte mich meine ganze Kindheit über. In Kirchenliedern jubilierten wir davon, bei Beerdigungen betete man für die Verstorbenen, dass sie dorthin kommen sollten, und wir Kinder phantasierten über das Paradies ähnlich wie über das Schlaraffenland, wo es unendlich viel Wurst, saftige Birnen und Ananasdosen gab. Ananasdosen bekam ich manchmal zum Geburtstag und aß dann jeden Tag einen süßen, saftigen Ring – paradiesisch! Wursträdchen klaute ich mir aus dem Einwickelpapier, wenn ich beim Metzger einkaufen war.
Das Paradies war aber einige Jahre später auch ein Thema, über das ich mich mit meinem Vater zerstritt und weswegen ich meinen ersten Schritt weg vom christlichen Glauben tat:
Wir saßen im Kreis um die Tische der »Sakristei« im Erdgeschoss beim Konfirmandenunterricht, den mein Vater hielt und der meistens sehr langweilig war. Er hatte etwas von der Taufe erzählt und dass man nur mit Taufe ins Paradies kommen kann. Ja, und die Heiden dürfen nicht dorthin. Deshalb muss man sie missionieren und taufen.
Ich erinnerte mich an die dunkelhäutigen Kinder, die ich in Kirchenzeitungen gesehen hatte. Ich war empört und meldete mich, was selten vorkam. Alle schauten mich an.
»Ich finde das so ungerecht, dass diese Kinder in die Hölle kommen! Sie können doch nichts dafür, dass sie nicht getauft sind!« Große Augen bei den anderen Konfirmanden, kurzes, eisiges Schweigen bei meinem Vater.
»Das steht so in der heiligen Schrift, dann stimmt es auch!« sagte er schließlich mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, und er zählte einige Bibelstellen auf.
Ich blieb nachdenklich und war unzufrieden mit der Antwort.
Das Paradies ist wohl nicht für alle da.
Claudia Weiss schreibt
„Keine Ankunft im Paradies“ von Doja Muggenthaler
Wunderbar, wie es der Autorin gelingt, einen in eine heitere, träge, „paradiesische“ Sommerstimmung zu versetzen. Dass aber das Paradies nicht jederzeit und für alle zugänglich ist, verleiht der Geschichte eine melancholische, nachdenkliche Note.